node created 2019/09/29
Die Kunst des totalitären Führers besteht darin, in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. Dies geschieht dadurch, daß man Erfahrungselemente isoliert und verallgemeinert, also sie dem Bereich der Urteilskraft, die ihnen ihren Platz in der Welt angewiesen hatte, entzieht, um dann so vom gesunden Menschenverstand unabhängig gewordene, aus ihrem allgemeinen Zusammenhang gerissene Erfahrung in das ihr logisch inhärente Extrem zu treiben. Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können. Die Organisation der totalitären Bewegung entspricht aufs genaueste dieser in der Propaganda erreichten Stimmigkeit einer fiktiven Welt. In ihr vermag die Bewegung die Aufdeckung aller spezifischen Lügen überleben, weil die Konsequenz der Fiktion als solche eine "höhere Wahrheit" zu repräsentieren scheint.
"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", S. 536
Die Organisation eines ganzen Volkes für den Zweck der Welteroberung nach dem Modell der "Weisen von Zion" faßten die Nazis in dem Begriff der Volksgemeinschaft propagandistisch zusammen. Die Volksgemeinschaft sollte auf der absoluten Gleichheit aller Deutschen, ihrer identischen, natürlich-physischen Überlegenheit über alle anderen Völker einerseits und auf ihrer absoluten Feindschaft gegen das jüdische Volk andererseits gründen. Nach der Machtübernahme verlor dieser Begriff etwas an propagandistischer Bedeutung, weil die Nazis es nicht mehr für nötig hielten, ihre Verachtung des deuschen Volkes (wie aller Völker als Völker) zu verbergen, und weil sie, in konsequenter Verfolgung ihrer Rasseideologie, mehr und mehr versuchten, die Reihen der Bewegung und vor allem der Elitegruppen den "Ariern" anderer Völker zu öffnen. Die Volksgemeinschaft war nur eine propagandistische Vorbereitung auf eine arische Rassegesellschaft, die schließlich allen Völkern, auch dem deutschen, den Garaus gemacht hätte. [Ende der Fußnote zu vorherigem Absatz:] Genau dies meinte auch Himmler, wenn er sagte: "Der Führer denkt nicht deutsch, er denkt germanisch." [..] Nur daß Hitler, wie wir aus den *Tischgesprächen* andeutungsweise erfahren, sich um diese Zeit bereits über das germanische "Geschrei" lustig machte und "arisch dachte".

Die Propaganda der Nazis von der Machtergreifung benutzte die Volksgemeinschaft vor allem als Antwort auf die klassenlose Gesellschaft kommunistischer Propaganda, und gerade in dieser Hinsicht bewährte sich die Volksgemeinschaft vorzüglich. Das Element einer nichtideologischen, revolutionären Gerechtigkeit war in dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft noch so lebendig, daß sie propagandistisch in dem Konkurrenzkampf mit der Volksgemeinschaft bald den kürzeren zog. Was die Massen hörten und was der Mob vor ihnen gehört hatte, war nur, daß die Einebnung aller sozialen und aller Eigentumsunterschiede in der klassenlosen Gesellschaft offensichtlich so vonstatten gehen würde, daß jeder auf den Stand eines gelernten Arbeiters gebracht werden sollte, während die Volksgemeinschaft mit ihren Assoziationen von Weltverschwörung und Welteroberung hoffen ließ, daß jeder Deutsche schließlich und endlich als Fabrikarbeiter enden würde. [..] Für die Bewegung war von großer Bedeutung, daß im Unterschiede zu der klassenlosen Gesellschaft, deren Realisierung von objektiven Bedingungen außerhalb der Bewegung abhing, die Volksgemeinschaft als eine "geschworene Sippengemeinschaft" [in der Formulierung der SS. Siehe Gunter d´Alquen, Die SS, 1939], geeint durch den Kampf gegen den angeblichen Hauptfeind, den Juden, sofort innerhalb der Bewegung realisiert werden konnte, und zwar durch die Einebnung aller sozialen Unterschiede einerseits und durch den von allen geforderten Judenhaß andererseits. Volksgemeinschaft wurde damit der Name für die fiktive Welt der Bewegung selbst.
"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", S. 534
So läuft der Unterschied zwischen traditionellen und modernen Lügen im Grunde auf den Unterschied zwischen Verbergen und Vernichten hinaus.
"Wahrheit und Politik"
Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.
"Vita Activa"
[..] wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust zu leben. Dies ist's aber auf jeden Fall. Der Meinung war ich sogar in Gurs, wo ich mir die Frage [ob man sich das Leben nehmen solle] ernsthaft vorlegte und spaßhaft beantwortete.
Brief an Kurt Blumenfeld (1952)
Der Mut befreit von der Sorge um das Leben, für die Freiheit der Welt. Des Mutes bedarf es, weil es in der Politik primär niemals um das Leben, sondern immer um die Welt geht, die so oder anders aussehen, so oder anders uns überdauern soll.
"Freiheit und Politik"
Die Bürokratie, also der Verwaltungsmassenmord, schafft natürlich wie jede Bürokratie eine Anonymität: die Person wird ausgelöscht. Sobald der Betreffende vor dem Richter erscheint, wird er wieder ein Mensch. Und das ist eigentlich das Großartige am Gerichtsverfahren, nicht? Es findet da eine wirkliche Verwandlung statt. Denn wenn der jetzt sagt: "Ich war doch nur ein Bürokrat", dann kann der Richter sagen: "Du, hör mal, deswegen stehst Du nicht hier. Du stehst deswegen hier, weil du ein Mensch bist und weil du bestimmte Sachen gemacht hast." Und diese Verwandlung hat etwas Großartiges.

Nun, abgesehen davon, dass die Bürokratie im Wesen anonym ist, lässt jede rastlose Tätigkeit Verantwortung verflüchtigen. Es gibt im Englischen einen idiomatischen Ausdruck: "stop and think" – halt an und denk nach. Kein Mensch kann nachdenken, ohne anzuhalten. Wenn Sie jemanden in eine rastlose Tätigkeit hereinzwingen, nicht wahr, oder [er] sich hereinzwingen lässt, dann werden Sie immer dieselbe Geschichte haben. Sie werden immer die Sache haben, dass Verantwortungsbewusstsein sich nicht bilden kann. Es kann sich nur bilden in dem Moment, wo man reflektiert – nicht über sich selbst, sondern über das, was man tut.
Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. Das heißt … Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen. [..] Gehorchen in diesem Sinne tun wir, solange wir Kinder sind, da ist es notwendig. Da ist Gehorsam eine sehr wichtige Geschichte. Aber die Sache sollte doch im vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahr spätestens ein Ende haben.
Wie schwer es sein muss, hier einen Weg zu finden, kommt vielleicht am deutlichsten in der gängigen Redensart zum Ausdruck, das Vergangene sei noch unbewältigt, man müsse erst einmal daran gehen, die Vergangenheit zu bewältigen. Dies kann man wahrscheinlich mit keiner Vergangenheit, sicher aber nicht mit dieser. Das höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.